Prämisse: Mitten in der Fußgängerzone einer Kleinstadt unweit von Görlitz übergießt sich 1996 ein junger Mann mit Benzin und zündet sich an. Dieser Roman erzählt, wie es dazu kam. Es ist eine Coming-of-Age-Geschichte aus den letzten Tagen der Prä-Internet-Zeit. Basierend auf einer wahren Geschichte erzählt sie von Freundschaft, Liebe, der Leidenschaft für Musik, der Sehnsucht nach Freiheit und dem Club als sozialem Utopia. Dabei zeigt sie auf, welche zerstörerische Kraft Verschwörungstheorien und die Selbstbestätigungsmechanismen von Filterblasen entwickeln können, und ist so zugleich ein Spiegel unserer Zeit Die Hintergründe: Eine westdeutsche Kleinstadt im Jahr 1990. Die Freunde Raffael und Pjotr kennen sich aus der Schule. Auf der Abschlussfahrt nach London lernen sie die Zirkusartistin Gesine kennen, die in einem Club als Performance-Künstlerin auftritt. Die beiden Abiturienten werden vom Acid-House-Fieber gepackt. Pjotr und Gesine werden ein Paar. Sie folgt ihm nach Deutschland. Zurück in der heimischen Provinz veranstalten sie Club-Abende in einer örtlichen Diskothek und eröffnen schließlich ihren eigenen Club. Gesine übernimmt das Artwork, Raffael die Geschäftsführung und der DJ Pjotr das Booking. Der Space-Club ist einer der ersten Techno-Clubs Deutschlands und schon bald auch einer der erfolgreichsten. Als das Trio schließlich 1992 in der Görlitzer Eissporthalle einen Rave mit mehr als 5000 Besuchern veranstaltet, markiert das den vorläufigen Höhepunkt der jungen Technobewegung aber auch das Ende ihrer Freundschaft und Pjotrs Absturz in den Wahn, der Jahre später mit seinem Suizid enden wird. Die Handlung: Gesine, Raffael und Pjotr sind beste Freunde. Sowohl Gesine als auch Raffael sind in den charismatischen DJ Pjotr verliebt, der allerdings nur seine künstlerische Vision im Kopf hat. Technobeats und MDMA sind für ihn die Schlüssel zu einem pazifistischen Utopia. In dessen Umsetzung sieht er sich schon bald vom Staat, dem Großkapital, der Presse und einer wachsenden Zahl anderer Gegenspieler bedroht. Je erfolgreicher das Trio wird, desto mehr steigert sich Pjotr in diese Verschwörungstheorien hinein, die zunehmend sein Handeln und auch die Beziehung der drei Protagonisten prägen. Während Pjotr sein vermeintliches Geheimwissen zu Kopf steigt, und er immer manipulativer wird, verstricken sich die beiden anderen zusehends in dem von ihm projizierten Netz aus Ängsten und Abhängigkeiten. Die Drogen tragen ihren Teil zur wachsenden Paranoia bei. Zumal Pjotr neben Ecstasy-Pillen bald schon Unmengen Speed konsumiert. Als er nach einem LSD-Trip ausrastet und sich selbst verletzt, rufen die beiden anderen den Notarzt. Im Wahn greift Pjotr einen der Sanitäter mit dem Messer an. Nach der Überstellung in eine psychiatrische Klink wird ihm eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Als er vier Jahre später entlassen wird, setzt er kurz darauf seine Medikamente ab. Zwei Wochen später übergießt er sich in der Fußgängerzone seiner Heimatstadt mit Benzin und zündet sich. Auf Pjotrs Beerdigung sehen sich Gesine und Raffael zum ersten Mal nach vier Jahren. Es ist auch das letzte Mal. KAPITEL 1 Vom Eindringen des Imperfekts in die Grammatik des heutigen Tages „Die Erde bricht wie Brot. Ich geh zu Grund, klagt das Meer. Das Feuer, dies sanfte Delirium. Der Abendhauch stürzt einen Felsen um.“ (Elisabeth Borchers) „Homicide, suicide, death, boom! Ain't nobody left Ooh, it's startin' to take effect You're on your knees, you're scared to death Tornados with a thousand people spinnin' One fight at the cross and now God is winnin' The whole Earth cracks in half The sea turns red from the blood bath Abandoned buildings burned and two remain“ (LL Cool J - Crossroads) Als die Welt auseinanderbrach rückte Dietmar in der kurzen Warteschlange vor dem Geldautomaten an der Ecke Schlossstraße und Salamanderweg gerade auf den ersten Platz vor. Er schob die Karte in den Schlitz und tippte seine Geheimzahl in die Tastatur. Bis zuletzt vermochte er nicht zu sagen, ob er damals getan hätte, was er kurz darauf tun sollte, wäre da nicht das Plakat an der Tankstelle gegenüber oder zumindest ein Teil des seit drei Monaten ausstehenden Lohns auf seinem Konto gewesen. Hätte die Maschine nämlich ein paar Scheine ausgespuckt, er wäre wohl ohne sich noch einmal umzudrehen in den kleinen Lebensmittelladen ein paar Häuser weiter geeilt, um sich eine Tüte Wassereis zu kaufen. Dietmar liebte Wassereis, ganz besonders das mit Waldmeistergeschmack, von dem die Zunge leuchtend grün wurde, und er kannte kaum ein angenehmeres Gefühl als das taube Kribbeln, das beim Lecken des körnigen Granulats allmählich vom Gaumen bis hinauf in die Schläfen wanderte. Der bloße Gedanke an dieses rare Vergnügen ließ ihm die Aussicht auf den langen Fußmarsch zurück zum Festplatz gleich um Einiges erträglicher erscheinen. Da das schmallippige Maul des Automaten sich jedoch weigerte, auch nur einen einzigen Dollar auszuspucken, hob Walton lediglich resignierend die gewaltigen runden Schultern. Während er darauf wartete, dass die ratternde Kiste seine Karte wieder hergab, bückte er sich, um die Reflexion des Plakats im Display zu studieren. „tleW red hcsneM etskräts lohw reD - rotnagiG“ rezitierte Dietmar - der sich auch die Comic-Hefte, in denen er so gern vor dem Einschlafen schmökerte, stets laut vorlas - mit dröhnendem Bariton die aus goldumrandeten, roten Lettern bestehenden Wörter des Schriftzugs, der in verschnörkelter Western-Typographie auf dem tiefblauen Grund des Posters prangte. „He du, Fettsack, könntest du bitte mit dem ausländischen Kauderwelsch aufhören und dich etwas beeilen“, drängte jemand hinter ihm, „es gibt hier Leute, die ...“ Als Dietmar sich wieder zu voller Größe aufrichtete, hielt der Mann mitten im Satz inne und fragte dann deutlich kleinlauter: „Verstehen Sie überhaupt, was ich sage?“ Dietmar verstand ihn nicht. Er hatte noch nie verstanden, warum manche Leute durch das Leben hetzten wie von einem immerwährenden Harndrang geplagt. Aber Dietmar verstand ganz im Allgemeinen eher wenig. Zumindest, was das Handeln und die Beweggründe anderer Menschen betraf. Vermutlich, weil ich nicht unbedingt der Hellste bin, dachte Dietmar, wahrscheinlich bin ich deshalb so schwer von Begriff, denn das war es, was er Zeit seines Lebens zu hören bekam. Zumindest war das so gewesen, bis der alte Schiffmann ihn unter seine Fittiche genommen hatte. Als er das Ende der Karte endlich mit den kurzen Fingern seiner riesigen Tatzen zu fassen bekam, zog er sie heraus, schob sie wieder in die Geldbörse, steckte diese in die Gesäßtasche der verschlissenen Latzhose, die er über seinem rot und weiß geringelten, ärmellosen Trikot trug, drehte sich um und blickte nun auf eine blasse Gestalt mit fortgeschrittener Stirnglatze hinab, die aus ihrem taubenblauen Anzug heraus verängstigt zu ihm hinaufblinzelte und mit beiden Armen einen ledernen Aktenkoffer umschlang. Ihr rosiges Gesicht mit den stechenden kleinen Augen erinnerte ihn an Peter Porker, das dressierte Schwein von Oleg dem Clown. Walton mochte Peter Porker, dennoch empfand er eine instinktive Abneigung gegen diesen Mann. „Hat eh keinen Zweck“, warnte Dietmar ihn trotzdem höflich vor, „bevor es nicht regnet, gibt’s kein Geld.“ Das musst du verstehen, Dietmar, hatte Direktor Schiffmann zu ihm gesagt, du willst doch auch nicht, dass Gesines Pferde verhungern, weil wir kein Futter für sie kaufen können. Sobald der Winter vorüber ist und die Tiere wieder weiden können, kriegst du deinen Lohn. Versprochen! Und natürlich wollte Dietmar nicht, dass die Pferde verhungern. Er mochte die Pferde. Und er mochte Gesine. Sie sah wunderschön aus, wenn sie in ihrer Cowboy-Kluft mit dem Stetson und der langen Peitsche in der Manege stand. Und sie benutzte die Peitsche nur, um damit zu knallen. Er hatte noch nie erlebt, dass sie eines der Tiere schlug. Außerdem war sie immer freundlich zu ihm. Wenn die Pferde verhungern würden, dann wäre Gesine arbeitslos. Und arbeitslose Menschen waren unfreundlich und scheuten nicht davor zurück, andere zu schlagen. Das hatte Dietmar am eigenen Leibe erfahren müssen. Sein Vater hatte zwar niemals eine Peitsche benutzt, aber ansonsten so ziemlich alles, was er in die Finger bekam. Trotzdem plagte Walton immer noch gelegentlich ein schlechtes Gewissen, weil er von zu Hause fortgelaufen war. Einmal hatte er seinem Vater sogar eine Postkarte geschickt. Aus Nordhausen in Thüringen. Weil auf der Karte eine Flasche dieses Gesöffs abgebildet war, das der Alte so mochte. Hallo Dad, hatte er geschrieben, ich habe jetzt Arbeit beim Zirkus - nicht „ich bin beim Zirkus“ sondern „ich habe Arbeit beim Zirkus“ - und komme viel rum, Dein Sohn Dietmar. Er hatte nie eine Antwort erhalten. Gesine hätte ihm sicher zurückgeschrieben und sie würde ihn auch ganz bestimmt niemals schlagen. Selbst dann nicht, wenn sie arbeitslos wäre. Vielleicht sollte er ihr eine Karte schreiben. Immerhin hatte er noch ein paar Cents in der Tasche und das Geld für die Briefmarke konnte er sich sparen, wenn er die Karte einfach unter der Tür ihres Wohnwagens hindurchschöbe. Als er sich von dem Geldautomaten abwandte und über die Köpfe der Wartenden hinweg nach einem Souvenirladen suchte, erblickte Walton auf der anderen Straßenseite das Plakat, dessen Spiegelung er im Display des Automaten gesehen hatte. Es war ihm ein vertrauter Anblick: Wann immer der Zirkus in einer Stadt gastierte, ließ Proctor dort vorher plakatieren, oft genug hatte Dietmar die Poster mit den grellbunten Portraits der beiden größten Attraktionen des Zirkus selbst geklebt. Doch wo ihm sonst Gesines und sein eigenes Gesicht entgegenblickten, starrten ihn nun aus milchig weißen Pupillen die bleichen, schorfigen Fratzen zwei blinder Zombies an. Mit einem lauten, hellen Quieken zuckte Dietmar erschreckt zusammen, bloß um Sekundenbruchteile darauf, ob der Erkenntnis, dass die Entstellung allein dicken Schlieren getrockneten Plakatkleisters zu verdanken war, erleichtert durchzuatmen. Doch da hatte der Rest der Schlange sich bereits neugierig der Tankstelle zugewandt, um zu sehen, was einen Koloss wie ihn derart das Fürchten gelehrt haben mochte. Als Dietmar beschämt den Blick senkte, bemerkte er den Spalt im Asphalt. Der Riss nahm seinen Ausgang zu Füßen des hölzernen Garagentors, an dem das Plakat hing, und zog sich von dort im Zickzackkurs an der einzigen Zapfsäule vorbei bis auf den nahen Bürgersteig. „Schau mal“, sagte ein etwa achtjähriger Junge mit auffällig buschigen, dunklen Augenbrauen zu einer stämmigen Blondine, die hinter dem Mann im taubenblauen Anzug in der Schlange wartete, „der Mann da vorne, das ist Gigantor, der stärkste Mensch der Welt. Steht auf dem Poster da drüben.“ „Wohl“, verbesserte ihn die Frau, die angesichts der beiden pelzigen Raupen, die über ihre Stirn krochen, nur die Mutter des Jungen sein konnte, „da steht: der wohl stärkste Mann der Welt. Das heißt, man weiß es nicht genau. Gut möglich, dass es viel stärkere gibt.“ „Was für ein blöder Affe kommt denn auf die Schnapsidee, im Slogan eines Werbeplakats den Superlativ zu relativieren!“, keifte der Anzugträger, dessen Halbplatte, wie Walton nun erkannte, eigentlich eine mittels einer Handvoll sorgfältig über den Kopf gescheitelter Haarsträhnen kaschierte Glatze war. „Aber was soll man von diesen ungebildeten Zirkusvolk auch anderes erwarten. Alles Idioten!“, schimpfte er weiter. Zwar war Dietmar die Bedeutung des Begriffes „relativieren“ nicht bekannt, aber Proctor hatte ihm am Tag seiner ersten Vorstellung geduldig erläutert, was es mit dem Begriff „wohl“ auf sich hat, und warum das Wörtchen – so leid es dem Direktor tat – zwingend auf dem Plakat Verwendung finden musste. Aus rechtlichen Gründen nämlich. Was rechtliche Gründe waren, hatte ihm wiederum Gesine erklärt, die „wahrscheinlich schönste Blume der Prärie“. Grandpa sichert sich nur ab, sagte Gesine. Denn wenn sich herausstellen sollte, dass du gar nicht der stärkste Mensch der Welt bist, sondern dass dieser Titel eigentlich einem anderen gebührt, dann könnte uns das eine Menge Ärger einbrocken. Weil wir gelogen haben. Auch das konnte Walton nicht so ganz begreifen. Aber ein Lügner wollte er auf keinem Fall sein. Auch wenn Dietmar nicht wusste, was „relativieren“ hieß, das Wort „Idiot“ war ihm nur allzu geläufig - sein Vater hatte ihn oft so genannt - und es gefiel ihm überhaupt nicht. Was die Affen betraf, so war er ob des stümperhaft geklebten Plakats zwar etwas verunsichert, konnte sich aber eigentlich nicht vorstellen, dass sie etwas damit zu tun hatten. Das würde der alte Proctor nie zulassen, weil die Schimpansen nämlich nichts als Unsinn im Kopf hatten und vor allem weil der Direktor eben kein Idiot war, was Walton diesem Peter Porker im Anzug auch gerne sagen wollte - allerdings fehlten ihm die passenden Worte. Trotzdem versuchte er es. „Das war kein Affe sondern Herr Schiffmann und er ist ein ... er ist ein guter Mensch, er sorgt für Gesine, mich und die anderen. Und er ... er sorgt für die Tiere. Auch für die Affen. Er ist kein Idiot sondern ein Direktor“, stammelte er. „Mag sein, dass er keiner ist“, erwiderte der Mann, der langsam wieder Oberwasser bekam, weil er inzwischen vermutete, dass die Körpergröße seines Gegenübers nur noch von dessen Dummheit übertroffen wurde, „aber was dich Riesenbaby betrifft, habe ich kaum Zweifel.“ Als er sah, wie Dietmars Bartspitzen zu zittern und die Augen des Riesen feucht zu glänzen begannen, strich er sich eine widerspenstige Strähne über die Glatze und sagte: „Nichts für ungut, aber wir haben hier bereits einen Dorftrottel.“ Dann starrte er herausfordernd zu ihm hinauf. Jetzt glotzten ihn auch Mutter und Sohn unverhohlen an. Während die pelzigen Raupen auf der Stirn des Jungen seinem Pony zustrebten, als wollten sie unter ein schützendes Blätterdach flüchten, steckten die auf der Stirn der Frau tratschend die Köpfe zusammen und reckten drohend ihre Hinterteile in die Höhe. Dietmar spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Schwer atmend kämpfte er mit geballten Fäusten gegen die Tränen an. Der Anblick des keuchenden, hochroten Riesen ließ den Mann vorsichtig hinter die beiden anderen zurückweichen. Die Einsicht, dass er zu weit gegangen war, kam ihm spätestens, als Dietmar urplötzlich die Augen aufriss, an Mutter und Sohn vorbei hechtete und ihn mit einem einzigen Schlag seiner gewaltigen Pranken zur Seite fegte. Er konnte allerdings nicht sehen, wie hinter ihm der Riss im Boden plötzlich quer über die Straße und zwischen seinen staubigen Mokassins hindurchschoss. Für das darauffolgende Knirschen und Krachen, als sich die Spalte auf gut zwei Finger Breite erweiterte, machte er irrtümlich Dietmar Hieb verantwortlich. Dabei hätte Dietmar, wäre der Riss in der Straße nicht gewesen, vermutlich getan, was er für gewöhnlich zu tun pflegte, wenn ihn – was gar nicht selten geschah - wildfremde Leute begafften: Er hätte freundlich gelächelt, verschämt etwas in seinen gezwirbelten schwarzen Schnauzbart gebrummelt und sich so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht. Letztlich war es aber vorrangig der vorrausgegangen Demütigung geschuldet, dass der wohl stärkste Mann der Welt sich auf der anderen Straßenseite zu Boden warf, die Füße in einem Gulli-Deckel verkeilte, während er sich mit seinen riesigen, haarigen Greifern am Bordstein festklammerte, als sich unter ihm mit Radau und Getöse die Erde auftat und er einen folgenschweren Entschluss fasste: Er, Dietmar Dinslaken, würde diesen Menschen zeigen, dass er kein Idiot war. Er würde diesen Planeten um jeden Preis zusammenhalten. Just in diesem Augenblick flog ihm ein kantiger, schwarzer Schemen entgegen und noch ehe er auch nur den Gedanken fassen konnte, der drohenden Gefahr auszuweichen, riss ihm die Wucht der Kollision den Kopf in den Nacken und ein gellender Schmerz explodierte krachend mitten in seinem Gesicht. Das trockene Knirschen, mit dem seine Schneidezähne brachen, raste durch seine Schädelknochen wie die Schallwellen einer Schiffshavarie durchs seichte Wasser. Tränen schossen ihm in die Augen und erstickten das gleißend weiße Feuerwerk auf seiner Netzhaut in milchigem Nebel, während der Geschmack von Salz und Rost seine Mundhöhle flutete, bis er sich prustend an seinem eigenen Blut verschluckte. Doch statt seinen Griff zu lockern oder gar loszulassen, als ihm allmählich die Sinne schwanden, grub Dietmar seine Nägel bloß noch tiefer in die schartige Spalte zwischen Bordstein und Gehweg. Er würde nicht zulassen, dass die Welt auseinanderbrach. KAPITEL 2She’s the lady with the answers that can teach you ’bout the world, she’s a truck driving, pile driving mean mother-trucker of a girl Don’t you worry, she treats every man the same, don’t you worry, that’s the way she plays her game, don’t you worry, cause whenever things go wrong, just call her name, call her name, call her name, and she’ll come looking. (Denis the Fox – „Mother Trucker“) Dieser Gestank. Säuerlich. Süßlich. Faulig. Alles zusammen. Wobei mal die eine, mal die andere Note überwog. Als hätte jemand einen Wurf Straßenköter in einem Bottich voll mit billigem Rotwein und Mountain Dew ersoffen, dann hineingekotzt und die Sauerei einfach hinter dem rostigen Kanonenofen vor sich hin gären lassen, der neben der Tür vor sich hin bollerte und den Raum mit einer mörderischen Gluthitze und dichtem Qualm erfüllte, als kröche von den umliegenden Hügeln nicht genug von beidem zwischen den dicht an dicht stehenden, schwefelgelben Stämmen der wie Antennenwälder in den Himmel aufragenden toten Hemlocktannen in den engen Talkessel hinab. Ein Szenario, das gar nicht so weit hergeholt schien. Schließlich war das selbstkreierte Gebräu der erklärte Lieblingsdrink des Mannes, der Bettie zur Begrüßung ein lüsternes „Kann ich ihnen helfen, junge Dame?“ entgegen lispelte und dafür bekannt war, das Zeug in solchen Massen in sich hinein zu kippen, dass er ihm seinen Namen verdankte: Muschi Kalterer. Wann immer sie Muschis Laden betrat, musste Wendy würgen. Wobei der widerliche Geruch weiß Gott nicht der einzige Grund dafür war, dass sie nur dann hierher kam, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden ließ, weil ihre Vorräte an Konserven, Bier oder Zigaretten mal wieder erschöpft waren. Wenn man hier irgendwo Gefahr lief, anderen Menschen zu begegnen – falls man den degenerierten Hinterwäldlern, die dieses trostlose Kaff bevölkerten, so etwas wie menschliches Auftreten überhaupt zusprechen konnte -, dann nämlich in dieser aus Wellblech, Planen, Bauholz und einem rostigen Wohnwagen zusammengezimmerten Imbissbude mit angeschlossenem Minimarkt. Und Begegnungen wollte Bettie tunlichst vermeiden. Hätte sie es auch nur im Geringsten auf menschliche Gesellschaft angelegt, wäre sie ganz sicher nicht in diese trostlose Einöde gezogen, in der mehr herrenlose Hunde als Einwohner lebten. Auch wenn der gute alte Red hier — zumindest dem Gestank in seinem Laden nach zur urteilen — sich offenbar als wandelnde „Pille danach“ betätigte: Die Viecher vermehrten sich einfach schneller. Und das obwohl Günter Schienhammer, dessen Bruchbude mit der moosbewachsenen, im feuchten Nebel schwarzglänzenden Schieferfassade die oberhalb der Stelle, wo sich die eine der beiden einzigen asphaltierten Straßen von Oberbörsch in zwei Schotterpisten gabelte, auf dem Hügel thronte, als wäre sie das gottverdammte Rathaus des Kaffs, alles daran setzte, den Vorsprung zu verringern. Was ihn gewissermaßen zu Muschis Gegenspieler machte. So wie Wendy das sah, wurde dieser Dorfkaff-Don-Juan dabei von der Mehrheit der hiesigen Weiber nach Kräften unterstützt. Offenbar kannte die örtliche Damenwelt nichts Attraktiveres als einen schmerbäuchigen Nazi, der selbst im Hochsommer in Moonboots durch die Gegend stapfte. Ungeachtet des Umstands, dass Reese längst nicht nur die Ehefrauen und Mütter beglückte, sondern sich auch an deren weiblichem Nachwuchs delektierte – der schon rein statistisch betrachtet nicht selten sein eigener sein musste -, sorgte offenbar eine weise höhere Macht dafür, dass die Population von Oberbörsch erstaunlich konstant blieb, indem etwa ein beträchtlicher Teil der männlichen Jugend noch vor Erreichen der Volljährigkeit im Knast oder bei der Armee landete. Die Lebenserwartung derjenigen, die nicht vom Staat aus dem Verkehr gezogen wurden, orientierte sich in der Regel an Art und Menge der konsumierten Drogen sowie am Umfang der genetischen Vorbelastung durch die jahrzehntelange Inzucht — und war entsprechend eingeschränkt. Was ja hinter Gittern und auf irgendwelchen heldenhaften Missionen bei den beschissenen Mullahs im Prinzip auch nicht anders lief. Nur, dass man dort zumindest in den Genuss einer gewissen gesundheitlichen Grundversorgung kam, die sich durchaus lebensverlängernd auswirken dürfte – im Gegensatz zu Sprengfallen, umherirrenden Kugeln, Messerstechereien oder Vergewaltigungen, die je nachdem, was man gebucht hatte, zum Paket dazugehörten. Allerdings konnten einen solche oder ähnliche Gefahren durchaus auch in Oberbörsch erwarten. Wie auch immer – des einen Leid ist des andern Freud. Für Betties Geschmack trieben sich hier bereits mehr als genug von diesen degenerierten Pennern herum. Und die Tatsache, dass sich niemand groß wunderte, wenn wieder mal einer von ihnen sang und klanglos verschwunden war, betrachtete sie deshalb gleich in zweifacher Hinsicht als Gewinn an Lebensqualität. Bettie schaufelte einen Stapel Batterien, fünf Flaschen Apfelkorn, sowie die letzten zwanzig Dosen Büchsenfleisch aus dem Regal in den mitgebrachten Müllsack und hievte diesen zu den vier Paletten Dosenbier auf die aus alten Reifen improvisierte Theke. Die trübe Funzel, die über Muschis Kopf von der niedrigen Decke baumelte und vom Dreck der Fliegen, die sie umkreisten, so verkrustet war, dass die nackte Glühbirne vollständig unter dem braunen Film verschwand, tauchte den kleinen Raum in flackerndes, bernsteinfarbenes Dämmerlicht, das von der dicken Staub- und Schmutzschicht die jeden einzelnen Gegenstand hier drin überzog, absorbiert wurde, wie von einem schwarzen Loch. Selbst die dicken Gläser von Reds Hornbrille waren so verschmiert, dass sie das Licht nicht reflektierten. Nur an Wendys linker Hand glitzerten kurz zwei goldene Ringe auf, als sie wortlos fünf Finger hob, während sie mit der Rechten auf die Zigaretten in der Auslage zeigte. Der Ladenbesitzer packte die Kippen zu dem restlichen Zeug in den Sack, strich sich den fettigen Pony seiner Topffrisur aus der Stirn, wischte sich die Hände an seinem verblichenen Onkelst-T-Shirt ab, legte den Kopf schräg und begann mit seinen braunen Zähnen auf der Unterlippe zu kauen, um in den nächsten paar Minuten abwechselnd Tabaksaft und Zahlen auszuspucken, während er angestrengt ins Innere der Mülltüte starrte. Seelenruhig wartete Bettie ab, bis Muschi ihr endlich das Ergebnis seiner komplizierten Berechnungen entgegen nuschelte, zählte ihm das Geld in die Hand, trat mit ihren Einkäufen vor die Tür, blinzelte in die Sonne und atmete einmal tief durch, bevor sie den Sack im Fußraum des bulligen, lackglänzenden Abschleppwagens verstaute, den sie am Rand der Schotterpiste geparkt hatte. In der Nacht hatte es gewittert. Die Morgenluft war klar, knisterte förmlich vor Elektrizität, schmeckte noch immer nach Regen und roch nach feuchter Erde, statt wie gewöhnlich um diese Jahreszeit nach Ruß, Staub und schalem Schweiß. Für einen kurzen Moment war Bettie beinahe gewillt, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. Doch kaum war sie hinters Steuer geklettert und hatte den Zündschlüssel herumgedreht, brauchte es nur einen einzigen Blick von der Höhe ihrer sanft vibrierenden Aussichtskanzel auf diese erbärmliche Ansammlung von abbruchreifen Fachwerkhäusern und Plattenbauten, die sich um sie herum in die düstere Senke duckten und an die Hänge klammerten, um den Gedanken auf der Stelle wieder zu verwerfen. Bettie löste die Bremse. Bevor sie losfuhr, sah sie kurz über ihre Schulter, um sich zu vergewissern, dass die hinter ihrem Sitz verstaute Beute noch genauso gut verschnürt war, wie sie dort von ihr deponiert worden war, zwinkerte dem sich windenden Bündel zu, zündete sich eine Zigarette aus dem Sack zu ihren Füßen an und stellte das Radio auf ihren Schlager-Sender ein. Als sie aufs Gaspedal trat, spie aus dem verchromten Auspuffrohr neben der Kanzel fauchend eine Wolke pechschwarzen Rauchs in den Himmel über Oberbörsch und gab der Luft ihr gewohntes Aroma zurück. *** Muschi starrte seiner Kundin mit stierem Blick hinterher. Als sie sie den Kopf aus dem Fenster steckte und sich nach ihm umdrehte, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Mitten in diesem teigigen Gesicht klaffte ein kreisrundes Loch. Die fettig glänzende, knallrote Demarkationslinie ihrer faltigen Lippen sah aus wie ein Schließmuskel, der ständig ein überraschtes „O“ zu artikulieren schien. Im Inneren von diesem „O“ war ein Ring spitzer kleiner Zähne angeordnet. Sie erinnerten Muschi an die Sandwürmer in dem Film „Der Wüstenplanet“. Irgendwie geilte ihn der Anblick auf. Es war nicht der Lippenstift, der ihn so heiß machte, sondern die Vorstellung, dass sich hinter ihrem Mund tatsächlich ein fetter, muskulöser Wurm wand und schlängelte, der es kaum erwarten konnte, sein gieriges Maul über Muschis steifen Schwanz zu schieben und zu saugen. Sein Blick folgte dem Abschleppwagen, wie er über die unbefestigte Piste entlang der von Unkraut und kleinen Sträuchern überwucherten Bahngleise holperte und dabei so viel Staub aufwirbelte, bis sich nur noch erahnen ließ, wie er an der Ruine des alten Kesselhauses die Schienen überquerte und hinter den Abraumhalden am Fuß des Lüderichs verschwand. Irgendetwas an dem schlammverkrusteten BMW im Schlepp des Trucks machte Muschi stutzig. Er schob die Hand unter das speckige T-Shirt und kratzte sich den schweißnassen Bauch. Die Tatsache, dass die Karre, wie an den roten und blauen Signalleuchten auf dem Dach unschwer zu erkennen, eine Bullenkutsche war, bereitete ihm kein Kopfzerbrechen. Klar, es gab Leute hier, denen würde es übel aufstoßen, wenn diese eingebildete Schlampe einen Kontrakt mit den Bullen an Land gezogen hätte, schließlich war ganz Oberbörsch davon überzeugt, dass sie mit ihrem gruseligen Schrottplatz auch so schon mehr Knete in einem Monat scheffelte, als die meisten von ihnen übers Jahr mit ihren Wohlfahrtsschecks zusammenkratzten. Wer es sich leisten konnte die alten Werkzäune der Lüderich Mine zu flicken und sogar die Tore zu erneuern, nur damit er da oben auf dem Berg seine gottverdammte Ruhe hat, der musste im Geld schwimmen. Außerdem traute dieser zugereisten Fotze, die sich zu fein war, sich mit den Einheimischen abzugeben, ohnehin niemand über den Weg. Was sich garantiert nicht bessern würde, wenn sie nun auch noch gemeinsame Sache mit den hiesigen Bullen machte. Da wurde Muschi schlagartig klar, was ihn an der Karre so irritierte: Die hiesige Polizei fuhr keine BMWs. Nicht einmal als Zivilfahrzeug. Auch wenn er auf seinem erbärmlichen Acker oben im Wald gerade mal so viel Gras anbauen konnte, dass es kaum für seinen eigenen — allerdings nicht eben bescheidenen — Bedarf reichte und sich sein Zeug ohnehin schlecht verkaufen ließ, weil man wegen der Schadstoffe in der Luft und im Boden solche Kopfschmerzen davon bekam, dass man eigentlich gleich den Rauch der Kohlebrände inhalieren konnte — was er zugegebenermaßen gelegentlich tat —, so machte es Red doch wie die meisten Einwohner von Oberbörsch und hielt sich tunlichst auf dem Laufenden, um die Bullen notfalls auf ein paar Meilen Entfernung erkennen zu können. Er war sich also zu hundert Prozent sicher, dass der Polizeiwagen, den die fette Miss Etepetete da gerade in ihre Festung schleppte, nicht von hier stammte. Ob das nun gut oder schlecht war, konnte er noch nicht sagen. Aber er würde es herausfinden, so wahr sein Name Muschi Kalterer lautete. Als beim Verlassen von Muschis Laden ausnahmsweise einmal weder Pech noch Schwefel ihre Schleimhäute gereizt hatten, war es Bettie tatsächlich gelungen, sich einen Augenblick lang einzubilden, sich irgendwo anders als am Eingang zum Fegefeuer zu befinden. Ganz kurz war ihr Entschluss, sich eine weiteres Mal von ihrem höllischen Schicksal freizukaufen, ins Wanken geraten, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie sogar die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass sie selbst und ihr Handeln es waren, die dieses Purgatorium am Leben hielten, dessen Flammen vielleicht nur deshalb brannten, weil sie von ihr genährt wurden. Keine Frage, die Vermessenheit dieses Gedankens würde sie teuer bezahlen müssen. Das Feuer der Schuld, das in ihren Eingeweiden schwelte, wie die giftigen Kohlebrände unter den Hügeln rund um Oberbörsch, loderte hell auf. Sie griff ins Handschuhfach und schob sich zwei Ibuprufen in den Mund. An dem verbeulten Blechschild „Serveert Altmetall & Recycling, 3 Kilometer“ bog sie links ab, querte die Bahngleise und rumpelte hinter der aufgegebenen Kokerei in den Wald. Die tiefen Spuren der riesigen Muldenkipper, deren letzte verbliebene Exemplare seit Jahren auf Wendys Schrottplatz wie auf einem Elefantenfriedhof vor sich hin rotteten, schraubten sich in langgezogenen Serpentinen den Berg hinauf und schüttelten ihren Truck jedes Mal so kräftig durch, dass ihr Kopf während der Fahrt über die alte Transportpiste mit dem der Marien-Wackelpuppe auf dem Armaturenbrett des Abschleppwagens um die Wette wackelte. Vor dem breiten, grauen Stahltor mit seiner Dornenkrone aus rostigem Stacheldraht ließ das Brennen in ihrer Brust allmählich nach. Wie immer, wenn sie auf den Knopf der Fernbedienung drückte und die beiden Flügel sich quietschend öffneten, jagte ihr der Anblick des gewaltigen Seilbaggers, dessen Kran-Arm sich hinter der hochaufragenden Wand aus Fahrzeugwracks wie ein warnender Skelettfinger schwarz vor dem sanften roten Glühen des Horizonts abzeichnete, eine wohlige Gänsehaut über den ganzen Körper. |
DER AUTOR
_Stephan Glietsch
_Geboren am 11.01.1967 _Wohnhaft in Köln _Studium Germanistik, Politik und Geschichte _Tätigkeiten als freier Illustrator, Grafiker und Autor _1994 Anstellung als Redakteur beim Musikmagazin Intro _Seit 1995 Chefredakteur des Magazins _2000 Wechsel zum Popkultur-Magazin Spex, dort leitender Redakteur bis 2007. _Seit 2007 Freiberuflicher Schriftsteller und Literaturübersetzer mit zahlreichen literarischen Veröffentlichungen in Magazinen wie Süddeutsche Zeitung, Playboy, Weekender und für Verlage wie Random House, Heyne, Lübbe, Blessing, Hablizel, Steidl, Edition Folkwang etc. |